Der Klavier-Doktor

Artikel aus “Sonntag Aktuell”, ZeitgeschehenS. 3 (Auszug) vom 2. März, 2008

Von Susanne Stiefel

Mit Leidenschaft den Beruf ausüben? Selbstverständlich ist das nicht in der modernen Arbeitswelt. In einer Serie stellen wir Menschen vor, die mit Begeisterung bei der Sache sind. Heute: der Mann, der die Flügel stimmt.

 

Er beherrscht das selektive Hören, wie kein Zweiter: der Klavierstimmer Naoki Yamaouchi.  Mit seiner Intoniernadel bringt er den Flügel zum singen

Plingpling. Schrill schrauben sich die Töne in die Höhe, bis sie unter der hohen Decke verklingen. Plingplingpling. Sie schwirren durch den Konzertsaal wie Fledermäuse in der Abenddämmerung. Konzentriert hämmert der Mann an dem schwarzen Flügel auf die hohen Tasten ein. Pling. Verschwindet fast im gierig aufgerissenen Maul des Instruments, um die Saiten anzuziehen. Plingpling. Lässt den porzellanenen Ton in seinem Ohr nachklingen. Noch ein wenig mehr Spannung. Ein bisschen noch – gut. Dieser Ton stimmt. Der Nächste, bitte.

Bild: Kirchner

“Ich bin der Klavier-Doktor”, sagt Naoki Yamaouchi und gestattet sich ein sparsames Lächeln. Der Mann wird fürs Hören bezahlt, nicht fürs Lächeln. Heute präpariert  er im lichtdurchfluteten Konzertsaal des Berliner Stilwerks einen Flügel, der zum ersten Mal auf der Bühne steht. Eine Premiere. Da ist der 59-jährige noch konzentriert bei der Sache.

Das schwarz glänzende Instrument kommt frisch aus dem Bechstein-Werk in Seifhennersdorf, ist gerade mal 20 Stunden lang von einem Pianisten eingespielt worden und hat an diesem Abend seinen ersten auftritt. Der russische Konzertpianist Nikolai Demidenko wird auf diesem Flügel Chopin spielen. “Das erste Mal ist immer besonders”, sagt Naoki Yamaouchi besorgt. Dieser Bechstein ist in diesem Moment sein Kind.

Er hat nicht das absolute Gehör, was er bedauert. aber er beherrscht das selektive Hören, wie kein Zweiter. Wer es wagt, Naoki Yamaouchi zu fragen, wenn er gerade einen Flügel auf seinen Auftritt vorbereitet, der merkt, dass Klischees treffend sein können: Worte können tatsächlich links ins Ohr reingehen und rechts wieder raus. Da ist kein Augenkontakt, kein Innehalten, kein Zögern oder auch nur eine gemurmelte Entschuldigung. Die Frage ist einfach durch ihn durchgegangen, ohne ihn zu berühren. Es ist, als ob da nichts wäre, nur der Mann und die Töne und das Klavier.

Seit mehr als 30 Jahren stimmt Yamaouchi Klaviere bei Bechstein. Fast so lange, wie er in Deutschland lebt. Der gelernte Klavierbauer weiß, dass er in einer traditionsreichen Firma arbeitet, die schon seit 1853 Konzertflügel baut, Instrumente, auf denen schon Claude Debussy und Franz Liszt spielten. Yamaouchi liebt diese Flügel, an deren Spielwerk er herumschraubt, deren Pedale er justiert, deren Saiten er zum Klingen bringt. Yamaouchis Leidenschaft für die Musikinstrumente, die ihm anvertraut werden, ist implosiv. Ist eine versteckte Schöne, die sich nach Innen richtet. Sie zeigt sich nicht in blumigen Worten, überschwänglichen Gesten oder lebendiger Mimik. Alles an diesem Mann ist sparsam. Geradezu minimalistisch. Auch seine Leidenschaft. Und das ist nur scheinbar ein Widerspruch.

Naoki Yamaouchi ist ein Handwerker. Seine kräftigen Hände wissen, wie man ein Klavier baut. Sie wissen, was es braucht, um zu klingen. Die Hände wissen, wie man die Töne präparieren muss, damit daraus Melodien entstehen können, Harmonien, die ins Herz gehen. Der introvertierte Mann selbst spielt nicht Klavier, obwohl zu Hause ein selbst gebautes Klavier steht. Sein Meisterstück. Darauf spielt die Tochter. Manchmal hat er sich in deren Musikunterricht ein paar Griffe abgeguckt. Noch nie ist dem Klavierstimmer langweilig geworden, immer tiefer hat er sich in seinen Beruf eingearbeitet, machte seinen Meister, wurde Konzertstimmer. Und immer genauer, pedantischer, perfekter.

Transparent, warm singend – soll ein Flügel klingen

Manchmal träumt er davon, selbst auf der Bühne zu stehen. Im Mittelpunkt des Interesses. Im Scheinwerferlicht. Aus dem Instrument nicht nur Töne, sondern Musik herauszulocken, die die Menschen zum Träumen bringt. Es bleibt ein Traum. Naoki Yamaouchi hat nie Klavier spielen gelernt.

Was der Klavierdoktor macht, wenn er gerade keinen Flügel fit fürs Konzert machen muss? Dann arbeitet Naoki Yamaouchi in der Bechstein Fabrik in Seifhennersdorf in Sachsen. Schraubt und baut und fachsimpelt mit den Kollegen, wie man den Klang noch verbessern kann: “Zwei Klavierbauer sind schlimmer als drei Lehrer”, sagt ein Mann, der mit einer Lehrerin verheiratet ist. Sie reden nur über das eine: den Job.

Zwei Stunden lang bearbeitet der schmale Mann an diesem sonnigen Morgen nun schon den Flügel. Irgendwann nachmittags kommt Nikolai Demidenko, der russische Pianist, der in England lebt und der das kann, was der japanische Klavierstimmer schmerzlich vermisst: Klavier spielen, dass die Menschen berührt sind. Demidenko will sich einhören in das Instrument, sich einspielen und mit dem Klavierstimmer abstimmen.

Dann sticht Yamaouchi noch einmal mit der Intoniernadel in den Filz des Hammerkopfs, um den Ton runder und voller zu machen. Oder kriecht unter den Flügel, um ein letztes Mal vor dem Konzert an den Pedalen zu schrauben.

Irgendwann ist auch Demidenko zufrieden. “How does it sound?”, fragt er schließlich in den Raum, wo Yamaouchi in der letzten Reihe zusammengesunken auf einem Stuhl sitzt, “wie klingt es?” – “Gut”, sagt der Mann, der nicht nur mit seinem Lächeln sparsam umgeht. Und dieses schlichte Wort klingt, wie ein Zertifikat. Die Zuhörer können kommen.

Etwa 200 Menschen drängen sich am Abend im Konzertsaal des Berliner Stilwerks. Demidenkos Finger tanzen über die weißen und schwarzen Tasten, aus dem Bauch des Flügels perlt Chopins Sonate Nr. 3 h-Moll. Da ist kein Plingpling mehr, kein schriller Ton, der verloren herumschwirrt. Jetzt ist der Raum gefüllt mit Melodien, Leidenschaft, Emotionen. Yamaouchi lauscht.

Zuschauer räuspern sich, lassen Programmhefte fallen, flüstern. Yamaouchi hört das alles nicht. Ganz still lehnt er hinten an der Wand, die Augen geschlossen, versunken in sich und die Musik. Dieser Mann hört nur, was er will. Ihn interessiert nur, ob jeder Ton richtig klingt, ob sein Instrument, sein Kind, sich bewährt. wie er da mit seinen Jeans und dem dunklen Pulli an der Wand steht, sieht er einsam aus, ganz allein unter 200 Musikliebhabern. Yamaouchi ist auf einem anderen Stern. Das bleibt auch so, als die Besucher sich nach Konzertende an ihm vorbei an den Ausgang drängen.

Zurückbleibt ein leerer, seltsam stiller Konzertsaal, der noch nachklingt. Der Flügel steht alleine auf der Bühne, mit offenem Mund, als wolle er nach Luft schnappen. Ob der Perfektionist zufrieden war mit der Premiere? Ob das schwarze Monster Chopin hat so erklingen lassen, wie er sich das wünschte, transparent, warm, singend? Hallo, Herr Yamaouchi? Hören Sie? Erde an Sternenstaub, bitte kommen! Widerwillig werden die Augen von entrückter Ferne auf Naheinstellung gezoomt. Yamaouchi lächelt nicht. Zufrieden? “Ja.” sagt er. Ein schlichtes Ja nur. Aber in seinen Augen tanzen die Sterne.

Susanne Stiefel

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https://www.youtube.com/watch?v=7xU6z7OiAgo